Die Hippsche Wendescheibe
Berichterstattung HR. Lüthy-Pavan, Gestaltung Franz Straka
Mathias Hipp wurde am 25. Oktober 1813 in Blaubeuren in Württemberg geboren. Durch einen Unfall, den er als Achtjähriger erlitt, war er einige Jahre ans Bett gefesselt. Er soll sich aber in dieser Zeit bereits stark seinen Interessengebieten Chemie und Physik, insbesondere der Mechanik, gewidmet haben. Er absolvierte in Blaubeuren eine Uhrmacherlehre. Die weitere Ausbildung brachte ihn dann nach Ulm, St. Gallen und schliesslich nach St. Aubin am Neuenburgersee, wo er die schweizerische Uhrenindustrie kennenlernte. Wieder in Deutschland, eröffnete er 1840 in Reutlingen eine eigene Werkstätte, in der er unter anderem eine seiner Erfindungen auswertete: Eine Pendeluhr, bei der die Schwingungen nicht durch ein Uhrwerk oder durch Gewichte, sondern durch einen Elektromagneten aufrecht erhalten wurden.
Dieses Prinzip kam später beim Auslösemechanismus der von ihm entwickelten Eisenbahnsignale wieder zur Anwendung. Von 1852 – 1860 war Mathias Hipp technischer Leiter der Eidgenössischen Telegraphenwerkstätte in Bern, die später privatisiert wurde und aus der die bekannte Firma Hasler AG entstand. Hipp gründete 1860 in Neuenburg eine eigene Telegraphenfabrik, aus welcher 1927 die heutige FAVAG hervorging. Erst 1889 zog er sich aus gesundheitlichen Gründen aus seiner Firma zurück. Er starb, beinahe 80 Jahre alt, am 3. Mai 1893. Von den zahlreichen Erfindungen oder Weiterentwicklungen von Mathias Hipp seien besonders erwähnt: Ein frühes Fernschreibersystem, ein Verfahren zur gleichzeitigen telegrafischen Übermittlung in beiden Richtungen, eine Art Elektromotor, elektrische Webstühle und natürlich Werke für Präzisions- und astronomische Uhren, letzteres in enger Zusammenarbeit mit dem Observatorium

Portrait von Mathias Hipp (1813-1893).
Bild aus Sonderdruck INTEGRA/Archiv SVEA
in Neuenburg, dessen heute noch bekanntes Zeitzeichen seit 1863 existiert und das anfänglich telegrafisch übermittelt wurde. 1861 lieferte das Unternehmen von Hipp ein System von elektrisch durch eine Zentraluhr gesteuerten öffentlichen Uhren an die Stadt Genf und in der Folge weitere Systeme an zahlreiche Schweizer Städte. Für den Eisenbahnfreund sind seine Netze der bekannten Bahnhofsuhren von Interesse.

Von 1972 - 1996 stand vor dem Haus des Berichterstatters Hansruedi Lüthy, Oberentfelden eine RhB-Hippsche Wendescheribe. Foto: H.R. Lüthy

Seinen Leistungen verdankte Mathias Hipp zahlreiche Ehrungen, darunter den Titel eines Ehrendoktors der Universität Zürich im Jahre 1875, aber auch die volkstümliche Bezeichnung als „schweizerischer Edison“. Es ist wenig bekannt, dass die Hippsche Wendescheibe wesentlich älter ist, als die später stärker verbreiteten Semaphore (Flügelsignale) und Klappscheiben. Tatsächlich wurden in der Signalordnung von 1874 nur Wendescheiben vor Stationseinfahrten genannt, welche damals als Abschlussignale bezeichnet wurden.

Die ersten Semaphore erschienen in der Schweiz erst 1880 (in Grenzbahnhöfen zur Badischen Bahn), Klappscheiben sogar erst 1890. Im Signalbuch der schweizerischen Eisenbahnen vom 1. August 1899 waren Wendescheiben als Vorsignale sowie einflüglige Semaphore als Ausfahrsignale abgebildet. Neu kannte man auch Scheibensignale mit dem weissen Schrägstrich.

Obwohl bei verschiedenen Bahnunternehmungen Signale neueren Baustandes angewendet wurden, waren Wendescheiben hier und da noch nach Jahrzehnten in Gebrauch. Die Firma Peyer, Favarger & Cie. in Neuenburg, wie sie nach dem Ausscheiden von Mathias Hipp hiess, warb in einem Katalog Anfang der 1890er-Jahre unter anderem damit, dass ihre Wendescheiben bei der Gotthardbahn, der Nordostbahn, den Vereinigten Schweizerbahnen, beim Jura Neuchâtelois und bei der Suisse Occidentale verbreitet seien. Noch nicht erwähnt wurde die Rhätische Bahn, deren Stammnetz sich damals grösstenteils erst im Projektierungsstadium befand, wo aber später Wendescheiben grosse Verbreitung fanden. Warum sich Wendescheiben an der RhB besonders lange gehalten haben, lässt sich unschwer abschätzen. Bei hohem Schnee gab es wahrscheinlich mit der elektrischen Auslösung von Wendescheiben weniger Probleme, als mit


Hippsche Wendescheibe zw. Filisur und Davos, ca. 1975. Foto: RhB/SVEA
den zu Klappscheiben und Semaphoren führenden Drahtzügen. Der Nachteil, dass von Zeit zu Zeit ein Gewicht im zur Wendescheibe gehörenden Mast an Ort und Stelle mit einer Kurbel aufgezogen werden musste, bedeutete zumindest im Zeitalter der Petroleumbeleuchtung noch kaum eine Erschwernis, weil damals das Signal ohnehin täglich mindestens zweimal zum Anzünden und Löschen des Lichtes von Bahnpersonal aufgesucht werden musste.

"Hippsche Wendescheiben sahen nicht nur recht kurios aus, sondern sie waren es auch in anderer Hinsicht."

Die ersten Wendescheibensignale sollen noch über Drahtzüge betätigt worden sein. Der von Mathias Hipp entwickelte Signalantrieb funktionierte mit einem Gewicht im ziemlich gedrungenen Signalmast und über eine elektromagnetische Auslösung, für die eine Batterie vorhanden war. Nach etwa 200 Scheibendrehungen musste das Gewicht, ähnlich wie bei den damaligen Bahnhofsglocken, aufgezogen werden. Zu den weiteren Merkwürdigkeiten gehörte, dass sich die Scheibe beim Öffnen um 90 Grad, beim Schliessen um 270 Grad in gleicher Richtung bewegte, in Verbindung mit den vorhandenen Zusatzscheibchen bestimmt ein faszinierender Anblick. Die Zusatzscheibchen sollen nicht nur das Erkennen des offenen Signales erleichtert haben, sondern auch die Drehung der grossen Scheibe, selbst bei Sturm.


Wendescheibe der SBB, Bahnhof Bischofszell-Stadt. Der Gewichtsantrieb wird regelmässig aufgezogen. Bild: SBB/SVEA


Hippsche Wendescheibe vor der Hauptwerkstätte der RhB in Landquart. Foto: RhB

Bei den vorhandenen Laternen gab es Unterschiede. Die letzten Wendescheiben der RhB trugen noch dieselben, von oben in die Scheibe einzuschiebenden Laternen. Die letzten Wendescheibensignale der SBB trugen hingegen kleinere Beleuchtungsaufsätze, welche an Vorsignalen, bei denen das Licht doppelt erscheinen musste, besonders seltsam aussahen. Von Anfang an waren Hippsche Wendescheiben mit einer elektrischen Rückmeldevorrichtung der Signalstellung zur Station versehen, ein grosser Vorteil in einer Zeit, in der die Kontrolle sonst üblicherweise noch in der Sichtverbindung des Stationsbeamten zum Signal bestand.


Offene Hippsche Wendescheibe zeigt freie Einfahrt für den Regionalzug im Unterengadin ca. 1970 Foto: RhB/SVEA
1930 erschien auf dem SBB-Netz das erste Lichtsignal und seit 1939 werden nur noch Lichtsignale aufgestellt. So ging auch der Bestand von Hippschen Wendescheiben von Jahr zu Jahr zurück. 1963 waren bei den SBB nur noch Glarus, Hemmishofen, Kradolf, Bischofszell-Nord und Bischofszell-Stadt mit Wendescheiben ausgerüstet. Auf dem Stammnetz der Rhätischen Bahn waren Hippsche Wendescheiben bis in die 1970er-Jahre, vereinzelt sogar bis in die 1980er-Jahre hinein vorhanden, zuletzt zwischen Ilanz und Disentis, im Unterengadin sowie zwischen Davos und Filisur.

An der Strecke des Dampfvereins Zürich-Oberland ( Museumsstrecke DVZO) wurde in Bäretswil ein Lichtsignal durcheine Wendescheibe ausgewechselt. Auch die Touristikbahn Blonay-Chamby zeigt als Museumsstück eine originale Hippsche Wendescheibe. Zahlreiche Hippsche Wendescheiben haben den Weg zu Sammlern gefunden, wo sie - zum Teil vollkommen funktionsfähig – die Gärten von Einfamilienhäusern schmücken.

Quellen

- Eisenbahn Zeitschrift 6/89, Rudolf W. Butz
-Spezialdruck Leben und Werk von M. Hipp, Herausgegeben von der Firma INTEGRA AG Wallisellen
-Eisenbahn-Amateur, EA 09/2002

Berichterstattung von HR Lüthy-Pavan
Gestaltung von Franz Straka
August 2010